Theologe: "Manchmal darf eine Kirche auch wie eine Kneipe sein"

Nachricht 29. November 2021
Dr. Martin Dorner (Foto: Harald Koch)

Der Theologe Martin Dorner sieht den Trend der sogenannten Vesperkirchen als einen wichtigen Katalysator für eine gesellschaftliche Neuorientierung der Kirchen. "Wenn wir mehr Menschen aus der ganzen Breite der Gesellschaft erreichen wollen, kann ein fröhliches gemeinsames Essen in der Mitte des Kirchenraumes mitunter ein passenderer Anknüpfungspunkt sein als ein klassischer Gottesdienst", sagte der Leiter des Netzwerks Diakonisches Lernen in Bayern am Freitag am Rande einer Tagung der hannoverschen Hanns-Lilje-Stiftung.

Die Idee, unterschiedlichste Menschen über eine gemeinsame Mahlzeit zusammenbringen, sei "urchristlich und angesichts wachsender sozialer Spannungen zugleich bestens in unsere Zeit passend". "Dass ein Kirchenraum nicht nur leise und andächtig, sondern auch laut und ausgelassen sein kann, ist für viele Menschen eine entkrampfende Erfahrung", betonte Dorner, der 2015 in Schweinfurt die erste Vesperkirche Bayerns mit initiierte. "Manchmal darf eine Kirche auch wie eine Kneipe sein, wenn auch mit Rücksicht auf alkoholkranke Gäste ohne Wein und Bier."

Das Konzept der Vesperkirche sei vor rund 25 Jahren in der Stuttgarter Leonhardskirche entstanden - in dem Wunsch, nicht nur Menschen in Armut in einem würdigen Rahmen eine günstige oder kostenlose Mahlzeit anzubieten, sondern darüber hinaus alle Milieus im Stadtteil an einer Tafel miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Vesperkirche hätte Bewegung in die Gemeinde gebracht, generationenübergreifendes ehrenamtliches Engagement nach sich gezogen und die Vernetzung der Gemeinde mit anderen Akteuren in der Stadt vertieft, erläuterte Dorner einige wesentliche Effekte des Projekts.

Seither seien deutschlandweit Dutzende Vesperkirchen entstanden, die den Grundgedanken aus Stuttgart um eigene kreative, politische und spirituelle Akzente ergänzten. Mit Blick auf eine aktuelle Vesperkirche in der Lüneburger Michaeliskirche, in der sich Besucherinnen und Besucher auch Tattoos stechen lassen können, sagte Dorner: "Denkverbote sollte es nicht geben. Das, was in einem Kirchenraum angemessen erscheint und einladend wirkt, hängt auch sehr von den Menschen und Gegebenheiten vor Ort zusammen."

Dorner bezeichnete das Modell der Vesperkirche als Chance sowohl für die Gemeinden selbst als auch für ihr soziales und kulturelles Umfeld: "Die Vesperkirche bündelt die Buntheit eines Stadtteils in einem Raum, sie hebt zumindest vorübergehend Klassenunterschiede auf und sie kann Engagierte und Sponsoren zusammenbringen und so zur Verstetigung des diakonischen und sozialen Engagements im Quartier beitragen."

(epd-Gespräch: Daniel Behrendt)