Wollen wir uns das leisten?

Nachricht 28. November 2022
Birgit Mandel. Die Professorin für Kulturvermittlung und Kulturmanagement leitet als Direktorin das Institut für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim (Foto: Universität Hildesheim)

Ein Gespräch über Theater und Museen für Eliten, demokratische Kulturförderung und Vesperkirchen mit Prof. Dr. Birgit Mandel

Frau Prof. Dr. Mandel, in fast jeder größeren Stadt in Deutschland gibt es mit Steuergeldern finanzierte Theater und Museen. Im europäischen Vergleich investiert unser Staat das meiste Geld für Kunst und Kultur. Allerdings nutzt die Hälfte der deutschen Bevölkerung diese kulturellen Einrichtungen gar nicht. Wieso nicht?
Prof. Dr. Birgit Mandel: Für viele Menschen in Deutschland gehören solche Kultureinrichtungen einfach nicht zu ihrem Lebensstil dazu.

Was steckt dahinter?
Mandel: Mangelnde Zeit oder zu wenig Geld, das wird in Befragungen oft als Motiv angegeben. De facto kann man aber davon ausgehen, dass mangelndes Interesse der Hauptgrund ist und die Vermutung, dass man sich dort unwohl fühlen oder langweilen würde. Ein Großteil der Befragten ist in seinem Leben noch nie mit einem Theater, einer Oper oder einem Museum in Berührung gekommen. Das wissen wir aus verschiedenen Nicht-Besucher-Studien.

Also gar keine Frage des Wohlstands und der finanziellen Möglichkeiten?
Mandel: Materieller Wohlstand ist ein Faktor. Aber das Bildungsniveau hat einen noch deutlich größeren Einfluss. Bestimmte Studierendengruppen inte-ressieren sich, obwohl sie wenig Geld besitzen, sehr stark für solche, ich nenne sie mal »Hochkulturformen«.

Sie schreiben, die meisten Theaterbesucherinnen und -besucher hätten nicht nur Abitur, sondern auch einen Hochschulabschluss.
Mandel: Genau. Je höher der soziale Status und je höher der Bildungsgrad, umso größer ist die Affinität zu komplexeren Kulturformen, die voraussetzungsvoller sind und sich nicht leicht erschließen lassen. Für dieses soziale Milieu gehörten traditionell Theater- oder Konzertbesuche fest zu ihrem Lebensstil dazu.

»Gehörten«? Sie sprechen in der Vergangenheitsform?
Mandel: Ja, denn auch dort lässt die Bindung nach. Nachwachsende Generationen verlieren das Interesse am Theater. Seit 20 Jahren sinken dessen Besucherzahlen. Das Stammpublikum wird immer älter.

Ihr neuestes Buch trägt den provokanten Titel »Das (un)verzichtbare Thea-ter«*. Brauchen wir noch eine Theaterlandschaft, die vor allem Akademikerinnen und Akademiker erfreut?
Mandel: Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, die wir befragt haben, 84 Prozent, sagt: »Ja. Wir brauchen sie.« Auch diejenigen, die die Angebote gar nicht nutzen, befürworten eine Förderung der Theatereinrichtungen auf dem bisherigen hohen Niveau.

Das verblüfft.
Mandel: Erst einmal zeugt das von einer großen Wertschätzung für Theater als gesellschaftlich wichtige Kulturform. Salopp gesagt: Das Image ist besser als die Nutzung. Dennoch müssen wir uns als Gesellschaft fragen, inwiefern es gerecht ist, so viele öffentliche Gelder für Einrichtungen auszugeben, die zuallererst für die Eliten da sind, und wie es gelingen kann, diese Einrichtungen tatsächlich zu öffnen. Das ist eine Frage, die aber in Deutschland natürlich nicht gestellt wird.

Warum »natürlich« nicht?
Mandel: Weil das ein Tabu ist. Denn der Erhalt des traditionellen Kulturerbes, wozu ja auch die Stadt- und Staatstheater gehören und die Sicherung der Kunstfreiheit einschließlich der Freiräume für die Institutionen gelten als hohes Gut – was radikale Veränderungen in der Neu-Aufstellung der Einrichtungen schwer macht.

»Kultur für alle« – hieß ein Slogan in den 1970er Jahren. Heute gibt es Initiativen, die günstige Tickets organisieren, um möglichst allen den Zugang zu ermöglichen.
Mandel: Es geht nicht nur um »Kultur für alle« im Sinne eines demokratischen Zugangs zur Hochkultur, sondern kulturpolitisch muss es auch um eine demokratische Kultur gehen. Das heißt, um einen weiten Kulturbegriff, der nicht normativ ist und wo die unterschiedlichen Kulturformen als unterschiedlich, aber wirklich als absolut gleichwertig betrachtet werden.

Wie weit müssten sich Theater öffnen?
Mandel: Ich habe einmal ein Theater in einer Kleinstadt der USA untersucht, das sich als eine Art Community Center mit theatralen Mitteln verstand. Dort fanden neben professionellen Theatervorführungen auch Aufführungen von Kindern und Jugendlichen, von Amateurgruppen statt. Es gab ein täglich geöffnetes Café. Es gab Stadt-Feste. Das Theater dort war ein niedrigschwelliger kultureller Ort für die gesamte Gemeinde.

Hierzulande tut man sich schwer mit Veränderungen. Woran liegt das?
Mandel: Unsere Theater sind schon sehr alt und haben eine lange Tradition. Manche Strukturen und Abteilungen bestehen seit Jahrhunderten. Und diese lassen sich eben nur sehr, sehr schwer verändern.

Was bräuchte es dafür?
Mandel: Ein Signal der jeweils zuständigen Kulturpolitik: »So, wir machen das jetzt mal ganz anders.« Denn es reicht eben nicht, nur ein paar wunderbare Projekte mit Kindern und Jugendlichen quasi als Add-on zum normalen Programm anzubieten, um Jüngere ans Theater zu binden. Wir bräuchten andere Programme, die mehr und vor allem andere Teile der Gesellschaft interessieren als bisher.

Das heißt?
Mandel: Zum Beispiel, indem die Kultureinrichtungen einen Programmbeirat einrichten, dem diverse Vertreterinnen und Vertreter aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und sozialen Milieus angehören; Menschen, die ganz unterschiedliche kulturelle Interessen haben und ein anderes Programm machen. Oder Programme partizipativ entwickeln mit verschiedenen Gruppen der Bevölkerung, wie das etwa schon in den Bürgerbühnen passiert.

Was wäre dann anders?
Mandel: Es gäbe mehr Anknüpfungspunkte zu Themen, die für die Leute relevant sind. Und es kämen sicher mehr unterhaltungsorientierte Stoffe heraus, mehr Komödien, mehr kulturelle Events, die auch die soziale Dimension, das gemeinsame Feiern beinhalten. Aus unserer Bevölkerungsbefragung wissen wir, dass Menschen im Theater vor allem Inszenierungen lieben, bei denen man lachen kann und Spaß hat.

Das würde vermutlich nicht allen gefallen?
Mandel: Unterhaltungsorientierung stößt im deutschen Hochkultur-Betrieb eher auf Vorbehalte. Komödien oder Amateurtheater gelten als weniger wertvoll. Viele der Stücke auf den Spielplänen der Theater adressieren eher ein Fachpublikum.

Gibt es trotzdem Positivbeispiele?
Mandel: Aktuell gibt es sehr viele Ansätze, Theater zu öffnen. Vorreiter sind dabei die Jugendtheater. Aber auch Theater wie das Staatsschauspiel Dresden gehen neue Wege mit ihrer Bürgerbühne. Auf der großen Bühne inszenieren sie Stücke mit einer Gruppe von Arbeitslosen, mit jungen Muslimas oder mit Alleinerziehenden. Sie entwickeln gemeinsam mit den Amateuren andere Themen, zeigen andere Perspektiven. Dabei kooperieren sie mit verschiedenen Institutionen der Stadtgesellschaft. Das funktioniert und findet Nachahmer.

Ähnlich wie Theater kämpfen Kirchen mit schrumpfenden Mitgliederzahlen und erreichen eher ältere Menschen und gebildete Schichten. Mit Vesperkirchen versuchen Gemeinden neue Wege zu gehen. Begleitet von einem Kulturprogramm, können Besuchende ein warmes Abendessen genießen. Kann das gelingen?
Mandel: Essen und Trinken, das sind schon mal ziemlich gute Rahmenbedingungen, um Menschen unterschiedlicher Milieus, Altersstufen und Bildungsstände zusammenzubringen. Sich wieder begegnen, gemeinsam etwas erleben, das ist in der Nach-Corona-Zeit so wichtig, weil sich die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen in den vergangenen Jahren immer weiter voneinander entfernt und abgeschottet haben; die große Herausforderung für den Kultursektor wie für die Kirchen in den kommenden Jahren.

„Die Welt im Umbruch. Wohlstand neu denken“. Der Klimawandel, die Corona-Pandemie und der Angriffskrieg auf die Ukraine stellen uns vor bisher nicht vorstellbare Herausforderungen. Wir wenden uns in unserem neuen Jahrbuch konkreten Handlungsfeldern zu und entwerfen Perspektiven, um Wohlstand mehrdimensional zu erfassen. Dabei orientieren wir uns an den drei Förderschwerpunkten der Hanns-Lilje-Stiftung im Dialog mit Kirche und Theologie:

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