Die Preisträger des Hanns-Lilje-Stiftungspreises Freiheit und Verantwortung 2023 in der Kategorie Wissenschaftspreis

Dr. Yannick Schlote

Konvergenz und Überwältigung. Die Mythen der Künstlichen Intelligenz aus theologisch-ethischer Perspektive
(Dissertation, München 2023)

Dr. Yannick Schlote ist seit Herbst 2022 Vikar der Kirche an der Evangelisch-lutherischen Jubilatekirche München-Waldperlach. Zuvor war er nach dem Abschluss seines Theologiestudiums in Berlin und München Volontär im Change Management und der Unternehmensstrategie der DB Engineering & Consulting GmbH in Berlin (2018-2019) und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und am Zentrum für Technik-Theologie-Naturwissenschaften (2019-2022).

Die Promotionsschrift widmet sich den Heils- und Unheilserwartungen, die im Umfeld der Arbeit mit Künstlicher Intelligenz hervorgebracht werden. Damit geht es im Sinne wissenschaftlicher Folgenabschätzung um Potentialerwartungen und Visionen beim Einsatz intelligenter Maschinen, mehr noch: um die Gleichsetzung von Mensch und Maschine. Sei Technik bisher Ausdruck menschlicher Souveränität gewesen, werde sie zunehmend zum all- und eigenmächtigen Subjekt des Handelns. 

Diesem setzt Schlote entgegen, Technik wieder als Ausdruck menschlicher Freiheit zu interpretieren. Infolgedessen dechiffriert er Technik-Mythen und weist sie als Symptom einer Gesellschaft aus, die sich technisch beherrscht, überfordert und wenig selbstwirksam wahrnimmt. Auf der Grundlage eines christlichen Freiheitsverständnisses entwickelt er einen pragmatischen und zugleich innovationsfreundlichen Zugang zur Technik und dem Einsatz von KI.

Sein Leitkriterium ist damit die Orientierung an den Bedürfnissen von Menschen. Sein tiefgründiger Impuls liegt darin, die Mythen der KI einer Religionskritik zu unterziehen, wenn diese drohe, sich absolut zu setzen.

Die Jury hat überzeugt, dass Schlote Künstliche Intelligenz ideen- und motivgeschichtlich in die Technikgeschichte einordnet. Zugleich erfasst er das Neue der KI analytisch präzise, z.B. die Differenz zwischen smarten und intelligenten Technologien oder die Nicht-Entschlüsselbarkeit von Algorithmen, und bringt dies mit theologischen Argumentationen ins Gespräch. So zeige die prometheische Versuchung, Leben aus Unbelebten zu generieren, und die damit verbundene Angst, dass sich dieses neu kreierte Leben gegen seine Schöpfer richte, wie komplementär Heils- und Unheilserwartungen beieinander liegen.

Eindrücklich deutet Schlote das Phänomen des Vorrangs und der Überbietung der Maschine gegenüber dem Menschen als Umkehrung der Schöpfungsgeschichte.

Darüber hinaus verdeutlicht Schlote exzellent, dass die KI datengestützte Prozesse und Entscheidungen treffe, nicht aber überzeugungsgestützte oder gar zwischenmenschlich soziale Entscheidungen. Dies sei ein fundamentaler Unterschied, auch wenn Menschen fehlbar seien. Denn nur Menschen können Fehlbarkeit einräumen und dann auch versöhnend auf andere zugehen. Dies sei das Spezielle menschlicher Gemeinschaft, was eine Maschine nicht hat.

Schließlich interpretiert Schlote, wie die KI den Menschen auf Informationen reduziert und damit vorgibt, ein körperloses Bild des Menschen auch über dessen Tod hinaus zu kreieren. Diesem stellt Schlote sehr überzeugend entgegen, dass die Leiblichkeit des Menschen der Entfaltungsraum des Menschen sei, das, was ihn als Geschöpf ausmache. Leiblichkeit sei also alles andere als ein Gefängnis, aus dem die KI den Menschen befreien wolle. Mit Schlotes Worten: „Anstatt die Maschine zu humanisieren und den Menschen zu mechanisieren, kann sich in der besonnenen Implementierung von KI die technische Kultur entgegen aller posthumanistischen Träume als Ausdruck einer humanen Kultur erwiesen." (S. 277)

Ganz im Sinne des ausgelobten Stiftungspreises stößt Schlote damit beispielgebend und auf höchstem Niveau neue Diskurse in der Technikethik an, die weit über die Theologie hinausgehen und „Die Bedeutung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft für das Leben“ zur Sprache bringen.

Prof. Dr. Dipl.-Ing. Axel Siegemund

Grenzziehungen in Industrie- und Biotechnik. Transzendenz und Sinnbehauptungen technologischer Modernisierung in Asien und Europa.
(Habilitation, 2022)

Prof. Dr. Axel Siegemund wurde 2018 als Dipl.-Ingenieur und evangelischer Theologe auf die Hemmerle-Stiftungsprofessur für Grenzfragen von Theologie, Naturwissenschaft und Technik an der RWTH Aachen berufen, die durch das Bistum Aachen getragen wird. Er studierte Siedlungs- und Industriewasserwirtschaft an der TU Dresden und in Dehli sowie Mittelalterliche Geschichte und Ev. Theologie an der ebenfalls an der TU Dresden. 2005-2007 arbeitete er als Dipl.-Ingenieur im Bereich Abwassermanagement in Dresden, anschließend als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Systematische Theologie an den Fachhochschulen Weingarten und Freiburg i.Br. und als Referent des Landesbischofs der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens für theologische Grundsatzfragen in Dresden. Von 2011 bis 2018 war er Theologischer Referent für Indien am Zentrum für Mission und Ökumene.

Die Habilitationsschrift rekonstruiert die Kommunikation und die ihr zugrunde liegenden Weltbilder sowie den interkulturellen Technik- und Wissenstransfer in Globalisierungsprozessen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Siegemund konzentriert sich dabei geografisch auf Ost- und Südostasien, theologisch auf die ökumenische Bewegung und technisch auf Industrietechnik und Biotechnologie. In diesem Dreieck arbeitet er die Modernisierungsversprechen und Fortschrittshoffnungen heraus, die mit Modernisierungskritik und Fortschrittsskepsis einhergehen.

Technik und Religion setzt er als kulturelle Lebenspraktiken in Beziehung, um sie überhaupt miteinander in Gespräch bringen zu können. Dies ist sein Schlüssel, um Transzendenzbehauptungen im Zuge technischer Entwicklungen zu erkennen, theologisch und ethisch zu beleuchten, kritisch zu hinterfragen und zugleich konstruktiv zu deuten.

Der Jury imponiert die bisher einzigartige Analyse der technischen und religiösen Weltbilder aus Südostasien und Europa im Kontext der uns heute prägenden Globalisierungsprozesse. Damit leistet die Arbeit einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis technischer Entwicklungen, der theologischen und auch säkularen Deutung und somit zur Orientierung in globalen Prozessen. Eindrücklich wird dazu die Frage herausgearbeitet, welchen Transzendenzen wir vertrauen und – noch elementarer – wo die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz gezogen werden kann. Dabei gilt es für Siegemund, die Fremdheit anderer Erfahrungen zu auszuhalten und als Teil einer Multiperspektivität des eigenen Daseins anzuerkennen. Technik und Religion werden insofern nicht mehr als Gegensätze gesehen, die sich konfliktiv begegnen oder ineinander verschmelzen. Vielmehr gelte es, in aller Offenheit nach einem gemeinsamen Horizont in technischen und religiösen Prozessen zu fragen.

In den versierten Länderstudien zu China, Korea und Indien, verbunden mit gegenwärtigen technischen Herausforderungen, zeigt Siegemund, dass Religionen einerseits Faktoren der Modernisierung sind, anderseits die Entwicklungen aber auch neue Religionsformen hervorbringe. Geprägt durch europäische Religionskritik setzt Siegemund hier Modernisierungs- und Religionskritik in Korrelation.

Auf dieser Basis entwickelt Siegemund elementare Thesen u.a. zur Technikhermeneutik. Er schreibt: „Gewissheiten ergeben sich … nicht aus der Technik, sondern aus ihr vorgelagerten Voraussetzungen.“ (S. 385). So käme die „Technik als das entscheidende Merkmal unserer Zivilisation … schließlich als das in den Blick, was sie ohnehin ist: als konstitutive Größe von Glaubenszeugnissen im globalen Horizont.“ (S. 396).

Siegemund schlägt mit der exzellent ausgearbeiteten Pointe der Integration von Religion und Technik als kultureller Lebenspraxis, ohne dass sie ineinander aufgehen, eine wegweisende Schneise. Sein Vorgehen lädt die Menschen unterschiedlicher Professionen und mit unterschiedlichen Weltbildern zu lebensdienlichen Klärungen im Beziehungsgeflecht von Religion, Technik und Globalisierung ein – ganz im Sinne unseres Hanns-Lilje-Stiftungspreises zum Thema „Die Bedeutung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft für das Leben“.