Hanns Lilje und das „technische Zeitalter"

In seiner Heimatstadt

hatte man eben die Straßenbeleuchtung von Gas auf elektrische Bogenlampen umgestellt. Die Firma Bahlsen testete die Keksproduktion am Fließband. „Wer am Vorabend des neuen Jahrhunderts in die Welt trat, bekam die Widersprüche, Ambivalenzen der zu Ende gehenden Ära ebenso wie die Hoffnungen und Pläne für das anbrechende Zeitalter mit in die Wiege gelegt“, schreibt der Kirchengeschichtler Harry Oelke, der Hanns Liljes Wirken bis 1945 untersucht hat.

Die Folgen dieser Zeitenwende

sollte Lilje bald selbst spüren. 1925 trat er sein Amt als Studentenpfarrer in Hannover an – der erste überhaupt an einer technischen Hochschule. Keine einfache Aufgabe: Gerade einmal 20 Studenten besuchten anfangs seine Gottesdienste in der Nikolaikapelle (zum Schluss waren es rund 250). Eine Hürde bildete aber nicht nur das mangelnde religiöse Interesse. Lilje traf dort auf einen ihm bis dahin unbekannten Studententyp: „Die hier vorherrschende Art zu denken unterschied sich grundsätzlich von jener Weise des geisteswissenschaftlichen Denkens an den Universitäten, wie er es selbst in seiner Studienzeit kennengelernt hatte“, so Oelke. Lilje beklagte bei den Technikstudenten das Fehlen der „notwendigsten Voraussetzungen nicht nur für religiöse, sondern meist auch für eine allgemeine geistige Diskussion“. Die Ursachen für diese „geistige Not“ sah er in der einseitigen Ausrichtung auf ein naturwissenschaftlich-pragmatisches Denken. Ein Aspekt, den Lilje schon bald in seiner ersten größeren Veröffentlichung aufnehmen wird, „Das technische Zeitalter“, die in einem Berliner Verlag erscheint.

„Wie die meisten seiner Generation

stand Lilje der Technik im Prinzip aufgeschlossen gegenüber“, so Harry Oelke. In seinem Buch spricht Lilje – durchaus bewundernd – von der „Großmacht Technik“, die er als Teil des göttlichen Schöpfungsplans sieht. Seine Kritik richtet sich nicht gegen die fortschreitende Rationalisierung an sich: Maschinen, die Arbeitsabläufe automatisieren, oder die Einführung des „Scientific Management“ mit standardisierten und normierten Arbeitsabläufen beim heimischen Reifenproduzenten Continental. Diese Umwälzungen akzeptiert er als „Formgesetz des technischen und wirtschaftlichen Lebens“. Ihn stört die Übertragung dieses Prinzips auf Bereiche, in denen es seiner Ansicht nach „verderbend wirken muss“. Lilje spricht von der „Ungöttlichkeit der Rationalisierung, wenn sie zur Beherrscherin auch unseres täglichen Lebens zu werden droht“. Beobachtet haben will er diese Tendenz in Alltag und Familie, in Politik und Gesellschaft sowie im Geistesleben überhaupt: „An Stelle der Ordnung Gottes, die lebensschaffend, lebensfördernd, lebenserhalten wirkt, tritt das tote Schema erstarrter Form.“ Die Ablösung des Kaiserreichs durch die Weimarer Republik mit ihrem Parteienpluralismus ist für ihn ein Teil dieses Prozesses. Liljes „Inkonsequenz bestand aus heutiger Sicht darin, dass er die gesellschaftlichen Konsequenzen abgelehnt und damit auf halbem Wege in Richtung Moderne Halt gemacht hat“, so Oelke. Doch Oelke sieht Liljes herausragende Leistung darin, die Tragweite des technischen Denkens erkannt und erstmals theologisch gedeutet zu haben.
 

Quelle: Jahrbuch 2016 / 2017 der Hanns-Lilje-Stiftung, S. 16 f., herausgegeben von Prof. Dr. Christoph Dahling-Sander