Hanns Lilje – Kirchenführer, Prediger, Publizist

Deutschland im August 1944.

Knapp vier Wochen liegt der Anschlag auf Adolf Hitler jetzt zurück, und noch immer kommt es zu Verhaftungen echter oder vermeintlicher Mitverschwörer. In seiner Berliner Wohnung hat sich Hanns Lilje früh schlafen gelegt. Soeben ist er zurückgekehrt von einer ausgedehnten Wanderung. Ein kleines Vergnügen, das sich der Generalsekretär des Lutherischen Weltkonvents auch in diesen Zeiten gönnt.

Kurz darauf

wird der Schlafende von heftigem Klingeln geweckt. Das berichtet er in seinem Buch „Im finstern Tal“, das 1947 erschien und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Vor der Tür stehen zwei Männer, die Lilje unschwer als Angehörige der Geheimen Staatspolizei erkennt: „Gesichter und Gehabe sind eindeutig genug durch ihren Beruf geprägt“, erinnert er sich später. Man müsse eine Hausdurchsuchung durchführen, eröffnen ihm die Beamten. Lilje ahnt: Der behauptete Zweck des Besuchs ist nur ein Vorwand. Die Hausdurchsuchung eine „merkwürdige Mischung von Penetranz und Oberflächlichkeit“ ist schnell beendet. Nachdem sie nachlässig ein paar Briefe besehen, einige Papiere und Bücher in die Hand genommen haben, verkünden die Beamten Lilje, dass er verhaftet sei. Man bringt ihn ins Untersuchungsgefängnis in die Lehrter Straße. Der Vorwurf: Mitwisserschaft am Attentat auf den Führer! Hosenträger, Krawatte und Gürtel muss er abgeben, ebenso seinen Füllfederhalter und die geliebte Schweizer Armbanduhr. Dann schließt sich die Zellentür hinter ihm.

Wie die Mehrheit der deutschen Protestanten

hatte auch Hanns Lilje den „nationalen Aufbruch“ zunächst begrüßt. Für ihn knüpfte sich daran die Hoffnung, dass die als Volksbewegung, weniger als politischer Faktor, begriffene nationalsozialistische Bewegung auch für die Kirche zu einer Zurückgewinnung nationaler Stärke führen würde“, so Harry Oelke, der Liljes Wirken in der Weimarer Republik und im Kirchenkampf erforscht hat. Eine Hoffnung, die sich bald als Illusion erweist: Nach der Übernahme der Regierung durch die Nationalsozialisten musste auch Lilje feststellen, dass die neuen Machthaber eine „Gleichschaltung der Kirche“ anstrebten. Als Mittel diente dem Regime dabei die „Glaubensbewegung der Deutschen Christen“, ein Sammelbecken evangelischer Anhänger des Nationalsozialismus, die eine Umdeutung der christlichen Lehre im Sinne der NS-Ideologie anstrebten. Für Lilje, von 1927 bis 1935 Generalsekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung und 1932 bis 1935 Vizepräsident des Christlichen Studentenweltbundes, waren solche Ideen schlicht „Irrlehren“. Er engagierte sich im Widerstand der bekenntnistreuen Protestanten, stritt gegen eine feindliche Übernahme der evangelischen Kirchen durch die Deutschen Christen. Er war Mitbegründer der „Jungreformatorischen Bewegung“ und gab unter anderem die „Junge Kirche“ heraus, das Mitteilungsblatt der „Bekennenden Kirche“. Wie viele Anhänger der Bekennenden Kirche betrachtete auch Lilje den sogenannten Kirchenkampf als interne kirchliche Angelegenheit. Mit öffentlicher Kritik am NS-Staat und seiner Ideologie hielt er sich zurück. Für den Kirchenhistoriker Hans Otte, langjähriger Leiter des Landeskirchlichen Archivs in Hannover, ein typisches Erbe des Protestantismus: „Traditionell galt die Devise, die Kirche habe sich aus der Politik herauszuhalten. Dem Staat als einer von Gott eingesetzten Obrigkeit schuldete man Loyalität.“

Ein verhängnisvoller Balanceakt.

Denn auch diese Haltung bewahrte Lilje nicht vor dem Zugriff des Staates. Es waren seine Predigten und Vorträge – teilweise vor mehreren Tausend Zuhörern – sowie seine seelsorgerischen Kontakte zu Vertretern des bürgerlichen und militärischen Widerstands, die ihn in den Augen des Regimes verdächtig machten. Rede- und Reiseverbote folgten. Seine Verhaftung durch die Gestapo – am Ende nur eine Frage der Zeit. Obwohl eine Mitwisserschaft an den Umsturzplänen des 20. Juli 1944 nicht nachgewiesen werden konnte, wurde er verurteilt. Vier Jahre Haft wegen Landesverrats. Die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof empfand er als „Farce“, den Vorsitzenden Richter Freisler als „Ungetüm der NS-Justiz“. Als er im Mai 1945 befreit wurde, waren viele seiner Mithäftlinge nicht mehr am Leben. Ihn selbst hatte das Gefängnis verändert. „Am verbrecherischen Charakter des NS-Regimes bestand für Lilje nun kein Zweifel mehr“, so Otte. „Sein späteres Engagement ist ohne die Erfahrung der Haft nicht denkbar.“

In den Nachkriegsjahren

verschafften Lilje sein langjähriges internationales Wirken, seine Haltung im Nationalsozialismus und seine Haft einen Vertrauensvorschuss. Dazu kam, dass er 1945 das Stuttgarter Schuldbekenntnis mitunterzeichnet hatte. „Wir jungen Leute strömten zu seinen ‚offenen Abenden‘ ins hannoversche Henriettenstift“, berichtet der spätere Landessuperintendent Hartmut Badenhop. „Uns interessierte dieser Pastor, der von den Amerikanern befreit worden war.“ Nicht nur den jungen Badenhop beeindruckte die Sprache des neuen Oberlandeskirchenrates. „Er formulierte nicht frömmelnd, benutzte Bibelzitate, Gedichte oder Liedtexte in seinen Ausführungen maßvoll“, so Ronald Uden, der das publizistische Wirken Liljes wissenschaftlich aufgearbeitet hat.

Für den hannoverschen Landesbischof August Marahrens

Als Bischof, Präsident des Lutherischen Weltbundes, Redner und Publizist war Lilje nicht nur in Deutschland ein gefragter Mann: Interview mit der BBC (British Broadcasting Corporation) 1951 in London. (Foto: Archiv der Hanns-Lilje-Stiftung)

wurde damals ein Nachfolger gesucht. Lilje, der eng mit Marahrens zusammengearbeitet hatte, galt dafür als der natürliche Kandidat. Am 17. April 1947 wählte die hannoversche Landessynode ihn einstimmig zu ihrem Bischof. Seine Aufgabe sah Lilje vorrangig in der Verkündigung des Evangeliums. „Ein Bischof muss predigen können“, befand er. Organisatorische Aufgaben delegierte er gerne an andere. Dass er im Umgang mit Menschen eine glückliche Hand hatte, kam dieser Amtsauffassung zugute. Der heutige Abt zu Loccum und ehemalige Landesbischof Horst Hirschler erinnert sich: „Ich war damals Lehrling in einem Hildesheimer Betrieb. Plötzlich hieß es, ‚der Landesbischof kommt‘.“ Aus der Distanz erblickte Hirschler eine untersetzte Gestalt, ganz in Schwarz mit einem Kreuz. „Er ging auf eine der Drehbänke zu. Man sprach etwas miteinander. Ich konnte nichts verstehen, aber es gab ein riesiges Gelächter.“ Später erfährt er: Der Bischof hat Witze erzählt.

Ein Jahr nach der Amtseinführung

wurde Lilje nach Amsterdam gerufen – die Gründungsveranstaltung des Ökumenischen Rates (ÖRK) stand an, heute das zentrale Organ der ökumenischen Bewegung. Sein Auftreten beeindruckte die übrigen Teilnehmer so, dass er umgehend in den Zentralausschuss des ÖRK gewählt wurde – für einen Deutschen kurz nach dem Krieg keine Selbstverständlichkeit. Noch glanzvoller war womöglich seine Tätigkeit für den Lutherischen Weltbund, die Weltorganisation der Lutheraner, deren Präsidentschaft er von 1952 bis 1957 innehatte. Dem Exekutivkomitee gehörte er von 1947 bis 1972 an. Dabei erwies er sich, so der Lilje-Biograph Johannes J. Siegmund, als „prägnanter Repräsentant der Kirche – und das im Verständnis der gesamten christlichen Kirche.“ Oft wurde er wie ein hoher Staatsgast als Präsident des Lutherischen Weltbundes empfangen. Eine Ehre, die der Sohn eines einfachen Gemeindediakons sichtlich genoss: Zahlreiche Fotografien zeigen ihn mit Staatsoberhäuptern aus aller Welt wie dem japanischen Kaiser Hirohito, dem amerikanischen Präsidenten Eisenhower oder dem ägyptischen Staatschef Nasser.

Lilje galt nun unbestritten

als der „Bischof der Öffentlichkeit“. Ein Image, zu dem maßgeblich sein publizistisches Engagement beitrug. „Wie kein anderer Kirchenführer nach dem Krieg hat Hanns Lilje die Bedeutung der Medien für die Kirche erkannt“, meint Uden. Dabei scheute er sich nicht, ungewöhnliche Wege zu gehen. Mit dem „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts“ schuf er einen bis dato unbekannten Zeitungstyp: Lilje, dem es um die Vermittlung christlicher Werte mit den Methoden des Journalismus ging, beschäftigte in der Redaktion neben Theologen auch professionelle Blattmacher und Fachjournalisten. Seine Vielseitigkeit wirkte auf manche fast einschüchternd. „Letztlich ging es ihm aber bei allem, was er tat, um die Verkündigung“, sagt Hartmut Badenhop. Dabei gestaltete Lilje nicht nur innerhalb der Kirche, sondern wirkte weit über sie hinaus in die Gesellschaft. „Die Verantwortung der Kirche für die Welt wurde zum Leitmotiv Liljescher Arbeit nach 1945“, so der Kirchengeschichtler Harry Oelke.

Horst Hirschler,

in den 1970er Jahren Studiendirektor des Predigerseminars im Kloster Loccum, hat Lilje in dessen letzten Lebensjahren oft besucht. „Er erzählte viel aus der Haftzeit. Ich habe gespürt, wie ihm das an die Seele ging“, so Hirschler. Als Hanns Lilje 77-jährig starb, würdigten ihn die Nachrufe als bedeutende Gestalt des deutschen Luthertums. Er selbst beschrieb sich lieber als „schlichten Christenmenschen“, der nichts anderes sein wollte „als ein Prediger des Evangeliums.“

Quelle: Jahrbuch 2016 / 2017 der Hanns-Lilje-Stiftung, S. 8-11, herausgegeben von Prof. Dr. Christoph Dahling-Sander